Neujahr in Japan früher und heute

Zwar unterlag im Verlauf von Modernisierung und Verwestlichung die japanische Kultur einem radikalem Wandelder japanische Festtagskalender wurde ausgedünnt und eine stetig wachsende Zahl an europäischen Festen importiert so scheint es doch eine große Konstante zu geben: Das Neujahrsfest. Dies ist mit Abstand das wichtigste Fest des Jahres und Dreh und Angelpunkt der japanischen Jahresfeste – zumindest wenn man den Landeskundeforschern Glauben schenkt. ISHII Kenji untersucht in einem Abschnitt seines Buches „Toshi no Nenjûgyôji“, ob das Neujahrsfest wirklich die moderne Welt unverändert überstanden hat.

Um die Unterschiede zwischen dem heutigen und dem damaligen Neujahrsfest aufzuzeigen, vergleicht Ishii den entsprechenden Eintrag im 1953 erschienenen Nenjyūgyōji zusetsu (年中行事図説) mit der beobachteten und untersuchten Realität der Gegenwart. Dort wird das Neujahrsfest als eine Reihe von kleineren und größeren Feierlichkeiten beschrieben, die sich in fünf Abschnitte unterteilen lassen (zuzuglich der Vorbereitungszeit im Dezember)

In Umfragen stellte Ishii fest, dass einerseits ein Großteil der Einzelfeierlichkeiten in den letzten Jahrzehnten wegfielen – so werden nur das Schmücken, der Verzehr von Neujahrsessen (Neujahrssoba, Zōni, Otoso), der Hausputz, der erste Schreinbesuch und das Feiern im Kreis der Familie von 50% oder mehr der Bevölkerung begangen – andererseits habe sich der Charakter der begangenen Feierlichkeiten bisweilen radikal verändert und unterlag zudem einer Bedeutungsverschiebung.
Während der vorbereitende Hausputz früher eine dem männlichen Familienoberhaupt überlassene Tätigkeit mit religiös-reinigendem Charakter besaß, handelt es sich heute um eine Art Familienunternehmen, bei dem auch der Mann und die Kinder einmal der Hausfrau helfen. Der Hausaltar findet in immer weniger japanischen Haushalten einen Platz und nicht einmal der Schrein für den Jahresgott wird noch aufgestellt. Neujahrsbäume werden im Supermarkt gekauft – Ishii weist zudem auf die perfekte Koordinierung mit dem Weihnachtsfest hin, nach der am 25.12. der Weihnachtsschmuck aus den Läden verschwindet und Neujahrswaren angeboten werden. Das erste Wasser wird aus dem Wasserhahn geschöpft, um den eventuell noch eine heilige Schnur (Shimenawa しめ縄) gebunden wurde. Neujahrsspeisen werden zu 60% im Supermarkt gekauft und der Speiseplan an den Geschmack der Familie angepasst, weshalb auch westlich oder chinesisch gegessen wird. Dabei sind ca. 50% der Befragten der Meinung, Neujahrsessen verzehre man nur am ersten Tag, während sich weitere 50% eher auf drei Tage einigten. Der Siebenkräuterbrei erlebte in den letzten Jahren ein Revival, nachdem Supermärkte fertige Kräuterpacks als gesundheitsfördernd anpriesen.

Dem ersten Schreinbesuch ist ein weiterer Abschnitt gewidmet, indem Ishii feststellt, dass zwar scheinbar mehr Leute zum Hatsumōde aufbrechen, aber auch darauf hinweist, dass die entsprechenden Zahlen aus der Polizeistatistik stammen (der Eingang zu Schreinen wird an Neujahr überwacht, um Gedränge zu vermeiden). Im Verlauf der letzten Jahrzehnte, insbesondere seit den Wirtschaftswunderjahren, konzentrieren sich die neujahrlichen Schreinbesuche auf einige wenige Schreine, insbesondere den Meiji-Schrein, während mittlere und kleinere Schreine immer weniger Besuche verzeichnen. Auch gibt es selbst in den Dörfern wenige, die noch die Neujahrsnacht im Schrein verbringen, wie früher offenbar mancherorts üblich. Ishii schlussfolgert, dass die Japaner ihre Heimat- und Blutsbande nicht mehr wichtig nähmen bzw. beim Umzug in die Stadt hinter sich gelassen hätten.
Während 50% der Befragten den Schrein mit ihrer Familie besuchten, wachen sich die andere Hälfte mit Freunden oder ihrer Freundin/ihrem Freund auf den Weg. Die angegebenen Gründe sprechen auch für sich: Neben Gewohnheit („Es ist einfach nur eine Sitte“ 単なる習慣) spielt Opportunismus („Ich wollte Gott um etwas bitten“ 神仏にお願い事をするため) eine große Rolle. Zum Abschluss stellt er fest, dass die Besucher, die den kleinen Schreinen verloren gehen, nicht unbedingt alle den größeren zustreben: Stattdessen nimmt die Zahl derer, die ins Ausland fahren, Disney-Land und. Co. besuchen, oder aber ein Neujahrssonderangebot in einem japanischen Hotel in Anspruch nehmen, stetig zu. Der Großteil der Bevölkerung scheint, nach Ishiis Umfragen zu urteilen, das Neujahrsfest vor allem als Zeit der Entspannung, als Ruhephase zwischen den Jahren zu sehen.

Durch das gesamte Kapitel hindurch fragte sich Ishii, was denn nun eigentlich das Ende des Neujahrsfestes sei. Heutzutage, so stellt er gen Ende trocken fest, sei es wohl der Tag, an dem die Japaner endgültig ihren Neujahrsbaum entsorgen: Der Tag der ersten Müllabholung nämlich.

Als Literaturempfehlung eignet sich das Buch evtl. nicht, da Ishii bisweilen ein wenig unwissenschaftlich vorgeht (schon allein, dass sämtliche Graphen ohne Markierungen auskommen müssen, ist einfach mal… daneben), doch war es eine gute Grundlage für diesen kleinen Überblick. 🙂
Wenn die Kanji wieder nicht zu lesen sind, macht mich nicht dafür verantwortlich, sondern holt eure Mistgabeln und Fackeln vom Dachboden und stürmt die WordPress Zentrale. Und macht Fotos davon.

Hier die Quellenangabe:
Ishii Kenji 石井研士: Das Neujahrsfest heute (Shōgatsu no Genzai 正月の現在). Aus: Die Jahresfeste in der Stadt – Der Wandel des japanischen Geistes. (Toshi no Nenjyūgyōji – Henyō suru Nihonjin no Shinsei 都市の年中行事・変容する日本人の心性), S. 37-81. Tokio: Shunjūsha 春秋社, 1994.

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